
Hintergrund
Eine epische Quest: die Suche nach dem besten «The Lord of the Rings»-Game
von Rainer Etzweiler
Nach drei US-Schauplätzen wechselt «Mafia: The Old Country» nach Sizilien um 1900. Ländliche Enge und soziale Härte ersetzen urbane Modernität und geben der Serie einen völlig neuen Tonfall.
Staub liegt in der Luft, während die Morgensonne nur mühsam durch die grauen Wolken über den sizilianischen Bergen bricht. Männer mit schwarzen Gesichtern und müden Augen verlassen die Mine, ihre Körper gebeugt vom ständigen Schuften. Unter ihnen Enzo Favara, der Protagonist von «Mafia: The Old Country» – ein Mann, dessen Leben von Anfang an von Enge, Armut und Ausweglosigkeit geprägt ist.
Genau in dieses Sizilien um 1900 verlegt Entwickler Hangar 13 die Handlung des vierten Serienteils. Und damit zurück an den Ort, an dem die Mafia nicht im Glanz amerikanischer Großstädte zum Mythos verklärt wird, sondern als bittere Realität des sizilianischen Alltags greifbar ist.
Dieser Beitrag ist kein klassischer Spieletest. Statt Spielmechaniken oder technische Aspekte in den Mittelpunkt zu stellen, beleuchtet er die historischen Hintergründe von «Mafia: The Old Country». Wie greift der vierte Serienteil die Realität Siziliens um 1900 auf? Wie kontrastiert er mit den bisherigen Teilen der Reihe? Und warum erzählt er die Mafia nicht mehr als amerikanischen Mythos, sondern als bittere Realität des Alltags?
Achtung: Dieser Beitrag enthält leichte Spoiler zur Handlung von «Mafia: The Old Country».
Um 1900 war Sizilien eine der ärmsten Regionen Europas. Während der italienische Nationalstaat nach der Einigung 1861 Modernisierung und Industrialisierung vorantrieb, blieb der Süden – und mit ihm Sizilien – weitgehend auf der Strecke. Analphabetismus, Hunger und fehlende Infrastruktur prägten den Alltag.
Zeitgenössische Schätzungen gehen davon aus, dass zu jener Zeit auf Sizilien rund 70 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnten. Im industriell geprägten Norditalien lag der Anteil der Analphabeten bei unter 30 Prozent. Für die meisten Menschen auf Sizilien war das tägliche Überleben weitaus wichtiger als die schulische Bildung.
Besonders prekär war die Lage der Landbevölkerung. Bauern mussten als Pächter (mezzadri) den Großteil ihrer Ernte – teils bis zu zwei Drittel – an die Großgrundbesitzer abgeben. Was übrig blieb, reichte kaum zum Leben. Saatgut und Werkzeuge mussten sie zusätzlich auf Kredit beziehen, meist zu Wucherzinsen. Missratene Ernten verschärften die Lage, sodass viele Familien in einer lebenslangen Schuldenfalle gefangen waren. In den Schwefelminen, die Sizilien damals international bekannt machten, arbeiteten Männer und Kinder unter lebensgefährlichen Bedingungen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts litten die Arbeiter unter hoher Sterblichkeit durch Unfälle, Erschöpfung und Krankheiten. Der Staat war zwar auf dem Papier präsent, in der Realität aber weit entfernt: Gerichte waren korrupt, Polizisten fehlten und die Bürokratie kam kaum bis in die abgelegenen Dörfer.
In dieser Lücke zwischen Not und staatlicher Abwesenheit entstand und wuchs die Mafia. Zunächst trat sie als eine Art Schutzgemeinschaft auf, die dort Regeln durchsetzte, wo die staatlichen Institutionen versagten. Doch aus inoffizieller Schlichtung wurde bald ein System organisierter Gewalt. Der sogenannte uomo d’onore – der «Mann der Ehre» – versprach Sicherheit, verlangte aber Schweigen (omertà) und Loyalität.
Wer nicht zahlte, riskierte soziale Ausgrenzung, Gewalt oder den Tod. Für viele junge Männer lag gerade in dieser Mischung aus Zwang und vermeintlichem Schutz der Reiz: Der Clan bot Zugehörigkeit, Einfluss und ein Minimum an Sicherheit – selbst wenn er gleichzeitig der größte Unterdrücker war.
Die Folge war eine Massenflucht. Zwischen 1876 und 1915 verließen rund 1,5 Millionen Sizilianerinnen und Sizilianer die Insel in Richtung USA. Viele von ihnen siedelten sich in Städten wie New York oder Chicago an – und mit ihnen fand auch die Mafia ihren Weg über den Atlantik. Damit wurde aus einem lokalen Machtgefüge ein transatlantisches Phänomen, dessen Schatten bis heute reicht.
Genau diesen historischen Moment greift «Mafia: The Old Country» auf. Das Spiel erzählt die Geschichte von Enzo Favara. Schon in den ersten Szenen wird klar: Wer wie Enzo auf Sizilien um 1900 geboren wird, hat kaum eine Wahl. Bereits als Kind wird er als carusu in die Schwefelminen geschickt, um die Schulden seines Vaters zu begleichen. Elf Jahre verbringt er in Dunkelheit und Staub – bis ein katastrophaler Erdrutsch sein Leben auf den Kopf stellt.
Der Unfall kostet seinen engsten Freund Gaetano das Leben. Enzo selbst überlebt, doch im Konflikt mit dem brutalen Aufseher Il Merlo gerät er in eine Situation, die ihn zur Flucht zwingt. Zufällig landet er auf dem Territorium der Torrisi-Familie und genau dort beginnt der Weg, der aus einem ausgebeuteten Minenarbeiter einen Mann im Dienste der Mafia macht.
Die Mafia bietet Enzo Zugehörigkeit und einen Ausweg aus der Armut. Aber er bindet ihn zugleich an ein System aus Gewalt und Schweigen.
Von diesem Moment an entwickelt sich Enzos Geschichte Schritt für Schritt und die Spielwelt selbst erzählt sie mit. Die Orte, die er durchläuft, spiegeln seine Transformation wider: Die Dunkelheit der Mine steht für Ausweglosigkeit und Zwang, das Dorf für Tradition und soziale Kontrolle. Die prunkvollen Villen der Clanführer schließlich stehen für Macht, die zugleich Abhängigkeit und Gefahr bedeutet.
Neben den Orten prägen die Figuren Enzos Geschichte. Sie sind Spiegelbilder der Gesellschaft und Motor seiner Transformation. Auch wenn sich die Schauplätze und gesellschaftlichen Strukturen an der Realität orientieren, sind die Figuren in «Mafia: The Old Country» frei erfunden. Enzo Favara und die Familien Torrisi oder Spadaro stehen exemplarisch für ein Milieu, das es in ähnlicher Form gab, ohne sich auf konkrete historische Personen zu beziehen.
Don Bernardo ist der erste, der Enzo eine Perspektive gibt, doch dieser Neuanfang ist untrennbar mit Loyalitätspflichten verbunden. Bernardo ist kein Wohltäter, sondern ein Mann der Macht: Wer sich ihm verschreibt, gehört fortan dem Clan. Mit seiner Tochter Isabella Torrisi tritt eine andere Dimension hinzu: Sie ist Enzos Hoffnung auf ein Leben jenseits der Gewalt, ein Ausblick auf Familie und Zukunft.
Enzo bewegt sich damit zwischen zwei Polen: Clan und Liebe, Pflicht und Freiheit. Hinzu kommen Weggefährten wie Cesare und Luca, deren Loyalität unsicher bleibt, und Antagonisten wie Don Spadaro oder Il Merlo, der die Härte von Enzos Vergangenheit verkörpert. Jede Begegnung bindet ihn enger an den Clan, jede Beziehung kostet ihn ein Stück seiner Unabhängigkeit.
Besonders bemerkenswert ist die Entscheidung der Entwickler, weite Teile des Spiels auf Sizilianisch zu vertonen – eine eigenständige romanische Sprache, die oft fälschlich als bloßer Dialekt des Italienischen gilt. Wo andere Produktionen Italienisch oder gar Englisch wählen würden, setzt «Mafia: The Old Country» konsequent auf die regionale Sprache. Das schafft Authentizität und verankert die Handlung tief in der Kultur des Ortes.
Obwohl Enzo selbst Sizilianer ist, wird Sprache für ihn zur Hürde. Das Sizilianische war nie einheitlich, jede Region hatte ihre Varianten, und in den Clans entstand zusätzlich ein eigener Jargon. Sprache wird so zum Machtinstrument: Wer sie beherrscht, gehört dazu; wer sie nicht versteht, bleibt ausgeschlossen. Für Enzo bedeutet die Aneignung nicht nur Integration, sondern auch das Einlassen auf ein System von Loyalität und Schweigen und damit auf die zentralen Themen des Spiels: Zugehörigkeit, Kontrolle, Abgrenzung.
Am Ende ist «Mafia: The Old Country» mehr als die Geschichte eines Einzelnen. Es ist ein Gesellschaftsporträt, das durch Orte, Figuren und Sprache ein komplexes Bild Siziliens um 1900 zeichnet. Enzos Aufstieg ist keine Heldenerzählung, sondern eine Tragödie, in der jede Stufe des Erfolgs neue Fesseln bringt.
Das Spiel macht spürbar, wie aus Armut, Tradition und staatlicher Abwesenheit eine Welt entsteht. Eine, in der die Mafia nicht Mythos, sondern alltägliche Realität ist und in der Enzos Weg vom Minenarbeiter zum Mafioso fast unausweichlich wirkt.
Die Mafia-Reihe war lange Zeit ein amerikanisches Projekt. Lost Heaven, Empire Bay, New Bordeaux – die fiktiven Städte der ersten drei Teile waren zwar erfunden, doch sie spiegelten die USA in den 1930er, 40er und 60er Jahren mit großer Detailtreue wider. Wolkenkratzer, Jazzclubs, Diners, Neonlichter: Schauplätze, die fest im kulturellen Gedächtnis verankert sind, nicht zuletzt durch Filme wie «Der Pate» oder «Goodfellas». Damit knüpften die Spiele an den Mythos der Mafia in den USA an, an die Erzählung vom Einwanderer, der nach Anerkennung strebt und in der Unterwelt Aufstieg findet.
Tommy Angelo, Vito Scaletta und Lincoln Clay – die drei Protagonisten – verkörperten jeweils eine Variante dieses Narrativs. Tommy, der Taxifahrer, wird in den Strudel der Mafia hineingezogen und ringt mit Fragen von Loyalität und Moral. Vito, der Italo-Amerikaner, träumt nach dem Krieg vom sozialen Aufstieg, scheitert jedoch an einem System, das ihn nicht anerkennt. Lincoln, der Vietnamveteran, steht im New Bordeaux der 1960er Jahre zwischen Rassismus, Trauma und Rache und versucht, seine eigene Machtbasis aufzubauen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf die eine oder andere Weise eine Wahl treffen: Sie suchen den Weg nach oben, auch wenn er über Gewalt führt.
«Mafia: The Old Country» bricht mit dieser Tradition. Zum ersten Mal verlässt die Serie die amerikanische Bühne und geht zurück an den Ursprung, nach Sizilien um 1900. Anstelle urbaner Moderne tritt nun ländliche Härte in den Vordergrund und mit ihr eine Mafia, die weniger Mythos als vielmehr Überlebensstrategie ist.
Damit verändert sich auch die Rolle des Protagonisten. Enzo wächst in Armut und Abhängigkeit auf – sein Leben ist von Beginn an von Zwängen bestimmt, nicht von Ambitionen. Während Tommy, Vito und Lincoln aus eigenem Antrieb handeln – Aufstieg, Anerkennung, Rache – bleibt er ein Getriebener. Seine Tragik liegt darin, dass er kaum eine Wahl hat.
Auch in der Tonalität schlägt «The Old Country» neue Wege ein. Wo die Vorgänger den amerikanischen Traum und seine Schattenseiten erzählen, geht es hier um Strukturen, die den Alltag zu jener Zeit prägten. Hier herrschen die Stille der Dörfer, das Klappern von Pferdekarren, das Knarzen alter Holzböden. Keine Hochhäuser, kein Jazz im Hintergrund. Nur das raue Geräusch der Arbeit und die leisen Drohungen der Clans.
Der Mythos, der die Reihe bislang getragen hat, wird hier bewusst dekonstruiert. Damit wird der vierte Teil nicht nur zur Abwechslung innerhalb der Serie, sondern zu einer Neuausrichtung. Er entzieht der Mafia die romantisierte Verklärung und zeigt sie als das, was sie auf Sizilien war: ein System der Kontrolle, geboren aus Armut, aufrechterhalten durch Schweigen, verankert im Alltag.
Indem «Mafia: The Old Country» die Serie zu ihren Wurzeln führt, entsteht ein spannender Kontrast: Was in den USA zum Mythos wurde, erscheint auf Sizilien als Realität. Der Spieler erlebt nicht länger den Nachhall einer Legende, sondern den Ursprung einer Macht, die bis heute nachwirkt.
Für mich war «Mafia: The Old Country» mehr als nur ein neuer Serienteil – es war eine Überraschung. Ich war und bin bis heute ein großer Fan von Teil 1 und 2. Gerade die erste Begegnung mit Tommy Angelo, die detailverliebte Darstellung von Lost Heaven und später Empire Bay haben mich lange begleitet. Teil 3 dagegen war für mich ein Reinfall – zu repetitiv im Gameplay, zu wenig Feingefühl in der Erzählweise.
Umso gespannter war ich auf den vierten Teil. Und ich muss sagen: Er hat mich gepackt. Hangar 13 hat den Mut gehabt, die Serie neu zu erfinden, ohne ihre Essenz zu verraten.
Die Interessen sind vielfältig, gerne genieße ich einfach nur das Leben. Immer auf der Suche nach News aus den Bereichen Darts, Gaming, Filme und Serien.