
Hintergrund
Spoiler Talk: Ist Squid Game Hype oder Kritik?
von Luca Fontana
«Squid Game» hat nie versprochen, dass am Ende alles gut wird. Aber es hat etwas viel Wertvolleres hinterlassen: eine Geschichte über Menschlichkeit – und darüber, wie schwer es ist, sie in einer unmenschlichen Welt zu bewahren.
Achtung: Dies ist ein Meinungsbeitrag mit Spoilern zu allen drei Staffeln von «Squid Game».
Gi-Hun hält das Baby in den Armen wie einen letzten Gedanken an das Gute. Seine Finger zittern vor Erschöpfung. Sein Gesicht ist von Müdigkeit gezeichnet. Zu viel hat er gesehen. Zu viel verloren. Und doch könnte er gewinnen. Jetzt. Der letzte Gegner vor ihm wiegt kaum drei Kilo, ist hilflos, stumm und in einen blutigen Overall gewickelt. Er ist kein Hindernis mehr. Kein Risiko. Nur ein letzter Akt der Selbstsucht.
Aber Gi-Hun hält inne.
«Wir sind keine Rennpferde», sagt er. Leise. Er trotzt damit jenen Worten, die ihm einst vom Frontman entgegengeschleudert wurden – als Drohung. Dann hebt er den Kopf. «Wir sind Menschen.»
Er legt das Baby behutsam auf den Boden, dort, wo niemand es treten kann. Niemand es mehr zwingt, Teil dieses Spiels zu werden. Plötzlich ist die Müdigkeit aus Gi-Huns Gesicht verschwunden. Da ist nur noch stoische Klarheit. Gi-Hun dreht sich um. Blickt dem tödlichen Abgrund, der vor ihm klafft, nicht ins Auge, sondern kehrt ihm den Rücken.
«Und Menschen sind … »
Dann lässt er sich rücklings fallen – und beendet das Spiel.
Ich bin baff. Fühle mich leer. Traurig. Verwirrt. «Ja, was sind Menschen denn nun?», frage ich mich, während ich den Tod des Protagonisten zu verarbeiten versuche, der uns jahrelang durch «Squid Game» getragen hat.
2021 begann «Squid Game» als perfide Parabel auf eine Welt, die vom gierigen Kapitalismus längst zerfressen worden ist. Als Spiegel eines Systems, das Menschen unter dem Vorwand freier Entscheidung zu Gegnern macht. Wer mitmacht, hat schliesslich eine Chance auf Milliarden. Wer aussteigt, verliert hingegen alles. Nicht nur das Spiel. Auch sein eigenes Leben.
Damals, in der ersten Staffel, ging es um die Mechanik: Wie funktioniert dieses System? Wer steckt dahinter? Und wie weit gehen Menschen, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben? Die Antworten waren schockierend. Ja. Aber auch entlarvend: Ähnlich wie die VIPs in der Serie beobachteten wir Zuschauende fasziniert, ob die, die mitmachen, bereit wären, ihre Menschlichkeit zu opfern, wenn ihr Überleben davon abhinge – und wo sie die Grenze zögen.
Gleichzeitig sprach die Serie aus, was viele längst fühlten: dass der Wert eines Menschen nicht mehr an seiner Würde gemessen wird, sondern an seiner Verwertbarkeit. «Squid Game»-Schöpfer Hwang Dong-hyuk nannte seine Serie ein Echo der südkoreanischen Industriegeschichte – von der Militärdiktatur zur Exportnation, von blutigen Aufständen zur neoliberalen Globalisierung. Inmitten dieses rasanten Aufstiegs: Verlierer, die nie eine faire Chance hatten. Alte Menschen. Migranten. Verschuldete. Entwurzelte.
Menschen wie Gi-Hun.
In Staffel 2 und 3 bleibt das Spiel zwar gleich, aber die Perspektive ändert sich. Sicher, die Regeln sind klar. Wer gewinnt, lebt. Wer verliert, stirbt. Manche werfen der Serie vor, sich zu wiederholen. Doch wer in «Squid Game 2 und 3» bloss «more of the same» sieht, hat nicht gründlich genug nachgedacht. Nicht mehr das «Wie» des Systems steht im Fokus, sondern das «Was es mit uns macht». Es geht um den Preis, den wir zahlen, um zu überleben. Um das, was von uns übrig bleibt.
Oder besser: Um das, was wir unterwegs verlieren.
Ausgetragen wird der Kampf um die Seele der Menschheit nicht mit Waffen – auch wenn auf den ersten Blick alles nach Blut und Kugeln aussieht. Er findet in Form zweier konkurrierender Überzeugungen statt: der des Frontmans und der von Gi-Hun. Beide waren Spieler. Beide haben überlebt. Aber nur einer von ihnen ist Mensch geblieben.
In-ho, der heutige Frontman, ist kein Bösewicht im klassischen Sinn. Nicht getrieben von Macht oder Ruhm, sondern von Verzweiflung. Von dem, was der Glaube an das Gute ihn gekostet hat. Zuerst verlor er seine Frau und sein Kind. Dann begann auch er zu bröckeln. Erst im Spiel. Dann darüber hinaus. Das sehen wir in kurzen Rückblenden. Langsam. Schleichend. So, wie Menschen eben untergehen. Schritt für Schritt.
Keine Frage: Der Frontman hat die Hölle gesehen und entschieden, dass Hoffnung darin keinen Platz hat. Seine ständige Frage an Gi-Hun – «Glaubst du noch an die Menschen?» – ist keine Provokation. Sie ist ein Spiegel. Denn In-ho hat diesen Glauben längst aufgegeben. Verzweifelt sucht er jemanden, der ihm beweist, dass er damit richtig lag – nur um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er vielleicht einen anderen Weg hätte wählen können.
Gi-Hun aber weigert sich, ihm diesen Beweis zu liefern. Er bleibt ein Störfaktor in In-hos Weltbild. Weil er nicht abstumpft. Weil er nicht mitmacht. Weil er, trotz allem, noch daran glaubt, dass am Ende alles gut wird. Vielleicht hat In-ho einst genauso gedacht. Vielleicht hätte er andere Entscheidungen getroffen, hätte er Menschen um sich gehabt, wie Gi-Hun sie in seiner ersten Staffel fand. Ali. Sae-byeok. Il-nam. Freunde, die ihn retteten – bis er sie verlor.
Am Ende ist es Gi-Huns Opfer für das Baby, das etwas in In-ho zum Beben bringt. Kein Wandel. Noch nicht. Aber eine Erschütterung. Ein Riss in der Panzerung, die er sich über Jahre aufgebaut hat. Vielleicht war er längst verloren. Vielleicht war er nie ganz weg. Aber irgendwo, tief in ihm, flackert für einen Moment etwas auf – eine Erinnerung an das, was er einmal geglaubt hat. An das, was er einmal war.
Dieses Flackern begleitet ihn bis nach Los Angeles. Dorthin, wo er Gi-Huns verbliebenes Preisgeld an dessen Tochter übergibt. Und genau dort, in den grell erleuchteten Strassen eines Landes, das sich für die Krone der freien Welt hält, erkennt er mit einem Anflug von Ekel: Das Spiel hat längst den Ozean überquert. Die neue Rekrutiererin – gespielt von Cate Blanchett – ist schon unterwegs. Neue Opfer. Neue Spiele.
Neue Masken.
Gi-Hun hätte der Held sein können, der alles beendet. Der das System sprengt, die VIPs entlarvt und die grausamen Spiele ein für alle Mal stoppt. Die klassische Heldenreise, wie wir sie kennen. Der Luke Skywalker, der den Todesstern mit einem einzigen Schuss zur Explosion bringt.
Aber «Squid Game» ist nicht «Star Wars». Und Gi-Hun kein Erlöser. In der Welt von «Squid Game» genügt kein einzelner Schuss. Kein Schlag ins Zentrum. Kein Triumph. Dafür ist dieses System einfach zu gross, zu durchdacht und schlichtweg zu fest in unsere Welt eingesickert. Zu viele profitieren davon. Und zu viele schauen zu.
Die Serie macht daraus kein Geheimnis. Sie zeigt uns eine Menschheit, die sich in all ihrer Widersprüchlichkeit verheddert hat. In Macht, in Ohnmacht, in Hoffnung, in Selbstaufgabe. Auch Gi-Hun. Auch er scheitert. Er, der einst aufrecht war, wird am Ende der zweiten Staffel gar zum Strategen. Zettelt einen Aufstand an. Spielt das Spiel, als wäre er längst Teil davon, und lässt sich im Anschluss an sein Scheitern von Rache leiten. Ein einzelner Akt – und doch ein Bruch, eine Schuld, die ihn innerlich zerreisst.
Vielleicht war das der Moment, in dem er verlor. Nicht das Spiel. Aber sich selbst.
Im Gegensatz zum Frontman bleibt Gi-Hun allerdings nicht dort stehen. Wo andere untergehen, sucht er einen Ausweg. Nicht aus dem System, sondern aus der Spirale, die ihn beinahe zerstört hätte. Seine letztlich bewahrte Menschlichkeit ist also kein Zufall. Sie ist eine Entscheidung gegen das Spiel. Ein Aufbäumen gegen das System, das Überleben um jeden Preis propagiert.
Und genau das ist die Antwort, die er auf seine letzte, unvollendete Frage gibt. Nicht in Worten. Sondern in einer letzten Tat: dem Selbstopfer.
Nun, was sind die Menschen jetzt? Menschen sind vor allem eines: nicht perfekt. Sie scheitern, sie brechen, sie verlieren sich selbst. Aber sie können auch zurückfinden. Wiedergutmachung üben. Hoffnung entfachen, wo alles verloren scheint. Nicht, weil sie stark sind. Sie tun es, weil sie sich entscheiden – für das Gute. Für das Leben. Für andere.
Vielleicht können wir das Spiel nicht beenden. Vielleicht wird es immer neue VIPs geben. Neue Masken. Neue Rekrutiererinnen. Aber solange es Menschen gibt, die sich entscheiden, nicht mitzuspielen, ist noch nicht alles verloren. Gi-Huns Opfer war kein Sieg über das System. Aber ein Akt der Menschlichkeit – gegen jede Wahrscheinlichkeit.
Vielleicht reicht das.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»